An einem sonnigen Sonntagabend fuhr ich mit meiner körperlich und geistig beeinträchtigten Schwester Lucie im halbleeren Zug von Basel nach Bern. Lucie jauchzte vor Freude, wie sie es immer tut, wenn sie glücklich ist. Auch ich genoss die Abendstimmung. Doch schon wieder wurde Lucie angestarrt. So war es fast immer, wenn wir in der Öffentlichkeit unterwegs waren. Dieses Mal war es ein Mann mit Glatze, der uns vis-à-vis sass. Ich schätzte, dass er um die 50 war. Er war eher klein, ein wenig mollig und sein Gesicht hatte eine leichte Rötung. Aus seiner Richtung roch es nach verfaulten Eiern, was aber vielleicht daran lag, dass das WC direkt hinter ihm war. Der Mann starrte Lucie mit seinen grossen, runden Augen an. Ich bemerkte, wie mein Herz schneller zu schlagen begann und mir heisser wurde. Ich zog meinen Pullover aus, doch dies half nichts. Lucie schien das Starren nicht zu stören, sie jauchzte weiter.
Ich wollte dem Mann sagen, dass er aufhören sollte, meine Schwester anzustarren. Doch ich konnte nicht, meine Angst war zu gross. Ich war nicht wohl. Doch Lucie schien immer noch glücklich zu sein[MB4] . Sie strahlte nur noch, sie hatte aufgehört zu jauchzen. Der Mann starrte immer noch und ich schaffte es nicht, meinen Mund zu öffnen.
"Jedes Mal dasselbe", dachte ich. "Nie getraue ich mich." Doch wenn ich meine Angst jetzt nicht überwinden konnte, dann würde ich mich nie mehr getrauen, etwas gegen die Blicke zu unternehmen. Also legte ich endlich meine Angst beiseite und sagte mit einer piepsigen Stimme zum Mann: "Was schaust du die ganze Zeit meine Schwester an?"
Lucie schaute mich verwirrt an. Sie war es nicht gewohnt, dass ich mit Fremden sprach. Das Gesicht des Mannes wurde noch röter als zuvor, doch er erwiderte nichts. Also sagte ich nochmal, jetzt mit einer festeren Stimme: "Ich habe dich gefragt, wieso du meine Schwester anstarrst."
Lucie fing seltsamerweise an zu lachen. Der Mann, dessen Gesicht nun immer röter wurde, stotterte mit einer höheren Stimme als erwartet: "E-es tut m-mir leid, ich w-wollte nicht sta-arren."
Während Lucies Lachen immer lauter wurde, verschwand meine Wut. "Hoffentlich schämt er sich nicht zu sehr", sagte ich zu mir selbst.
"Macht nichts". Dies hörte er vermutlich jedoch nicht, da ich so leise gesprochen hatte.
Wenige Minuten später kamen wir in Bern an. Während Lucie und ich ausstiegen, blieb der Mann im Zug.